Eroberung von Kabul Ich wäre meinen Job los, Maas darf weiter dilettieren

Eine Midlife-Kolumne von Juno Vai

Unsere Kolumnistin lebte jahrelang in Russland, sah, wie schon die Sowjets in Afghanistan scheiterten. Dass sich jetzt der Westen von der "Blitzeroberung" Kabuls durch die Taliban überrascht zeigt, macht sie fassungslos.

24.08.2021, 19.04 Uhr

Siegreiche Taliban-Kämpfer in Kabul
Foto: Stringer / imago images/SNA

Ich habe an dieser Stelle mal beschrieben, wie selten man im fortgeschrittenen Alter noch überrascht wird. In der vergangenen Woche haben das zynischerweise die Taliban übernommen. Oder vielmehr die von der Eroberung Kabuls angeblich total überrumpelten Regierungen des Westens.

Eine Taliban-Horde, die qua Blitzinvasion wie eine Geisterarmee in der Hauptstadt auftaucht? Es war die Überraschung der Überraschten, die mich überraschte. Und vollkommen fassungslos machte.

Wo die Heerscharen von Gotteskriegern denn plötzlich alle herkämen, fragten sich manche Politiker. Nun, sie waren offenbar die ganze Zeit da. Und haben das getan, was unermüdliche Journalistinnen, Korrespondenten und Landeskenner seit Langem berichten: Sie sind in die Dörfer gegangen, haben sie geschickt infiltriert, die Menschen mit Geld und Vergünstigungen geködert - sich so verhalten wie jeder ordentliche Mafioso, der Territorium erobern oder halten will.

Weil aber der Staat in Afghanistan noch abwesender ist als etwa in Italien, konnten die Taliban nach dem strategischen Weichkochen ganzer Gemeinden relativ ungestört die Macht oder sogar die Sympathien an sich reißen. Wer nicht mitzog, verschwand eben von der Bildfläche.

Und all diese schleichenden Gebietsgewinne sollen den Nachrichtendiensten verborgen geblieben sein? Weil sie zu wenig "human intelligence", ortskundige Informanten, abseits der großen Städte hatten? Oder weil sie zu selten Zeitung gelesen haben?

In Deutschland soll der Bundesnachrichtendienst (BND) noch kurz vor der Machtübernahme der Taliban eine militärische Einnahme Kabuls vor dem 11. September ausgeschlossen, im Dezember aber noch davor gewarnt haben. Für Außenminister Heiko Maas sind solche BND-Lageberichte eine Ursache für das Totalversagen in Afghanistan. Er spricht von "Fehleinschätzungen", die man "aufbereiten" müsse. Jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin würde angesichts solch gravierender Ahnungslosigkeit im Job gefeuert. Maas darf seine Inkompetenz nun erst mal "aufbereiten", wie er sich ungelenk im SPIEGEL-Interview ausdrückte - und meint wahrscheinlich aufarbeiten.

"Wir machen uns große Sorgen um unsere Freunde"

Während die Taliban-Führung nach ihrer Offensive auf den edlen Teppichen des Präsidentenpalastes herumlümmelte, versuchten Tausende, über den Flughafen außer Landes zu kommen oder sich zu verstecken. Ortskräfte, die für westliche Truppen und Institutionen gearbeitet haben, sind vom Tode bedroht - darüber gibt es trotz pseudoversöhnlicher Töne der Extremisten kaum Zweifel. Aber auch die Töne der Bundesregierung sind pseudoversöhnlich. Man wolle den Menschen bestmöglich helfen - und tut mit bürokratischen Visaverfahren und Verwandtschaftsgradprüfungen das genaue Gegenteil.

"Wir machen uns große Sorgen um unsere Freunde und ehemaligen Mitarbeiter", sagt ein guter Freund, der Mitte der Nullerjahre in einem Distrikt nördlich von Kundus mithilfe des Bundesentwicklungsministeriums und des Auswärtigen Amts zwei Schulen aufbaute und Lehrer ausbilden ließ. Es gebe derzeit keinen Kontakt, "nur ein ehemaliger Lehrer konnte sich nach Indien absetzen und in Sicherheit bringen".

Schon 2006 seien die Taliban in der Region präsent gewesen, 2015 hätten sie dann den Distrikt übernommen, berichtet mein Bekannter. Die beiden Schulen, darunter auch ein Mädchengymnasium, gelangten in die Hände der Islamisten. Die Folge: "Das Ausbildungsniveau sank, das Koranstudium wurde intensiver, Mädchen, die älter als zwölf waren, durften nicht mehr kommen."

Überraschungsmoment als billige Ausrede

Aktuell macht die Tatsache, dass er nicht helfen kann, dem 61-Jährigen zu schaffen. "Mich hat nicht die rasante Machtübernahme der Taliban überrascht, sondern höchstens die Tatsache, dass die afghanische Armee so schnell das Feld geräumt und Präsident Ashraf Ghani sich abgesetzt hat", sagt er.

Das angebliche Überraschungsmoment bei der Machtübernahme sei "das einzige Argument, das die beteiligten Kräfte zur Verteidigung ihres Versagens anführen können". Man hätte den Abzug problemlos "sauber organisieren", die Ortskräfte und alle Bedrohten einfach rechtzeitig herausholen können. "Fast alle, die im Land gearbeitet haben, wussten, was bevorsteht."

Gehandelt wurde trotzdem nicht. Vielleicht aus Dilettantismus und Bürokratismus, aus Unfähigkeit oder Faulheit. Vielleicht auch ganz bewusst aus strategischen Gründen. Aber nach dem Debakel weinerlich "Surprise" zu krakeelen wie einst die Hippies in der "Sesamstraße", ist einfach verlogen.

Wer älter als 40 ist, wird sich an die grausigen Bilder aus dem Afghanistan der Neunzigerjahre erinnern - Aufnahmen aus dem Fußballstadion in Kabul, das unter Taliban-Herrschaft ein Veranstaltungsort der speziellen Art war: Hier wurden unter dem Gejohle des Publikums Menschen geköpft, erschossen oder gesteinigt. Anderen wurden Gliedmaßen abgetrennt. Wegen Diebstahls, Untreue oder weil "aufreizende" weiße Socken zur Burka getragen wurden.

An Afghanistan sind schon die Sowjets gescheitert. Und es ist eher die Abwesenheit von Überraschung, die ewige Wiederholung, die traurig und wütend macht angesichts des Siegeszugs der Taliban.

Heroin im Sarg

Ich sehe noch die russischen Soldaten vor mir, die Ende der Achtzigerjahre völlig aufgerieben aus dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrten. Ich war zu dieser Zeit sehr oft in Russland und saß bei manchem stundenlang in der Küche. Einige hatten Heroin in den Särgen ihrer Kameraden nach Hause geschmuggelt. Sie hingen an der Nadel - weil es im Kampfgebiet leichter war, an Rauschgift zu kommen, als an eine Flasche Wodka.

Viele der Veteranen arbeiteten Anfang der Neunziger im neuen, anarchistischen Russland als Sicherheitsleute. Sie trugen gebügelte Tarnanzüge und klammerten sich an ihre Kalaschnikows, als würde jeden Moment hinter der Garderobe des Nachtklubs ein Taliban hervorspringen. Man durfte sich ihnen niemals von hinten nähern oder Witze reißen, denn der Humor war ihnen vergangen. Diese Männer waren reizbar, instinktgetrieben und gefährlich. Sie schwiegen eisern über ihre Erlebnisse in Afghanistan. Und niemand sprach vom posttraumatischen Syndrom - so etwas hatte ein Sowjet-Held nicht.

Man muss kein Freund Gregor Gysis sein, um den als Terrorvergeltungsakt der USA gestarteten, rund 1000 Milliarden Dollar teuren Einsatz in Afghanistan schändlich und sinnlos zu finden. Aber der Linkenpolitiker hat ihn schon vor Jahren klar als Fiasko erkannt und sein Ende gefordert. "Wir wollen nicht kopflos raus, sie wollten kopflos rein", sagte er damals im Bundestag.

Nun ist der Kopflos-Abzug Realität. Laut dem US-Fachblatt "Foreign Policy" wird die zukünftige Taliban-Regierung ein zwölfköpfiger Rat "aus Kriminellen, Terroristen und eher geschmeidigen Ex-Regierungsmitgliedern" sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanistan zum attraktiven Rückzugs- und Trainingsort für radikale Islamisten aus aller Welt wird, ist groß. Der Westen wird es wohl erneut mit den "Absolventen" dieser Camps zu tun bekommen.

Clanstrukturen - modern und effizient?

Für den US-Historiker und Soziologen Sumit Guha sind die Vorgänge in Afghanistan eine Mahnung, dass Staaten nicht die einzige Form der politischen Organisation sind. Klima und Topografie in bestimmten Gegenden der Welt würden ländliche, dezentralisierte Formen sozialer Organisation stärken - eben Clan- oder Stammesstrukturen.

Überleben sei in diesen Regionen nur über Verwandtschaftsnetzwerke möglich. Laut Guha sind Stämme kein Relikt vergangener Zeiten, sondern eine Art dynamische, gar moderne Anpassung an äußere Bedrohungen. Der Historiker beobachtet eine Zersplitterung von Staaten in "Stämme mit Flaggen", die sich erfolgreich behaupten.

Es wäre natürlich schön, wenn jetzt Lehren aus den Fehlern in Afghanistan gezogen würden. Wollten wir die ewige Wiederholung unterbrechen, müssten wir erst mal kritisch überdenken, ob unser Verständnis von Staat und Demokratie überhaupt auf alle gesellschaftlichen Systeme anwendbar ist.


Quelle: spiegel.de vom 24.08.2021